Gastbeitrag: Da steckt der Mehlwurm drin

Ich glaube, dass das Essverhalten viel über den Charakter eines Menschen aussagt. Je weltoffener, desto neugieriger und aufgeschlossener ist eine Person auch gegenüber exotischen Speisen. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass ich ein sehr unerschrockenes Exemplar von Mann gewählt habe. Mein Mitbewohner war von Essento zum Insekten-Apéro eingeladen. Seine Erlebnisse hat er für euch aufgeschrieben.

Der Mitbewohner sagt:

Mein erstes Mal hatte ich im Alter von etwa 10 Jahren. Ich war mit meinem Vater auf einer Wanderung in Zermatt. BeimMarschhalt auf einem Felsen krochen plötzlich Heerscharen von kleinen Raupen um uns herum. Mein Vater bot mir 5 Franken, wenn ich eine essen würde. Für ihn war es undenkbar, ein Insekt zu essen. Mich lockte damals vor allem das leicht zu verdienende Geld. 4 Raupen später war ich 20 Franken reicher. Es wäre allerdings vermessen zu sagen, ich sei damals auf den Geschmack gekommen; die Tierchen schmeckten ziemlich bitter.

Knapp 30 Jahre später schiebe ich eine gefriergetrocknete Heuschrecke in den Mund. Ich bin im Zürcher Restaurant Maison Manesse, wo Essento zum Insekten Verkosten geladen hat. Das Schweizer Startup will Insekten bzw. darauf basierende Lebensmittel auf den Markt zu bringen. Keine einfache Aufgabe. Denn während Insekten auf dem Speisezettel in anderen Gegenden der Welt eine Selbstverständlichkeit sind, rufen sie hier in erster Linie eines hervor: Abwehrreflexe.

Nachhaltig, gesund, lecker: So preist Essento die Vorteile an. Besonders punkto Ressourcenverbrauch und Treibhausgasausstoss schneidet die Insektenzucht deutlich besser ab als die Fleischproduktion (siehe dazu etwa die Infografik von Speiseplan.Wien), und sie sind auch vom ethischen-moralischen Aspekt unproblematischer weil weniger anspruchsvoll, was die (Massen-)Haltung anbelangt. Darüber hinaus sind sie vielfältig im Geschmack und fettarm, dafür reich an Aminosäuren, Vitaminen und Mineralstoffen – eigentlich müssten Insekt ein gefundenes Fressen sein für die Generation #superfood. Schliesslich bewegt sich auch die Schweizer Gesetzgebung: Heuschrecken, Grillen und Mehlwürmer sollten bald in die Lebensmittelverordnung aufgenommen werden, so dass diese kommerziell angeboten werden dürfen. Die Argumente für Insekten als Nahrungsmittel liegen also auf der Hand.

Wenn nur der Kopf nicht wäre, der darauf konditioniert ist, dass die Sechsbeiner eigentlich etwas Ekliges sind. Wenn Medien über das Thema Insekten essen berichten, wird meistens artig auf die ökologischen Vorzüge hingewiesen. Spätestens für die Illustration muss dann aber in der Regel das Bild einer frittierten Heuschrecke herhalten, um den Ekel-Reflex des Lesers möglichst zu bestärken. Insekten essen als ökologisch korrekte Freakshow.

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Das Team hinter dem Kochbuchprojekt, v.l.: Christian Bärtsch, Adrian Kessler, Patrick Zbinden, Eva Keller, Jürg Grunder, Esther Kern, Dominik Flammer

Dass es mehr ist als das, will Essento uns auf sinnliche Weise schmackhaft machen und uns gewissermassen mit dem Gaumen anstatt mit den Augen überzeugen. Dazu soll demnächst das Buch Grillen, Heuschrecken & Co. erscheinen, das unter anderem 40 Rezepte und Hintergrundinformationen enthält. Den für den Druck des Buches erforderlichen Betrag wollen sie per Crowdfunding auftreiben. Und um dafür ein wenig die Werbetrommel zu rühren, haben sie zum Häppchenverzehr geladen.

Ich schiebe mir also eine gefriergetrocknete Heuschrecke in den Mund, zugegeben mit einer Mischung aus Neugier und Augen-zu-und-durch. Schmeckt… nun, eigentlich nicht nach sehr viel. Die Flügel fühlen sich etwas ungewöhnlich an im Mund. Natürlich hat dies noch nichts mit Fine dining zu tun; die Heuschrecke wurde mir denn auch bloss als Demo des Rohstoffs gereicht. Etwa später geht’s erst richtig los – es werden aufgetischt:

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Mehlwurm-Erbsenaufstrich mit frischer Kresse
Marokkanischer Couscous-Salat mit Kräutergrillen
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Mehlwurm-Polenta-Roulade mit Soja-Rotweinjus
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Teriyaki-Heuschreckenspiess
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Buffalo-Rocher, Mehlwurm-Cashew-Krokant und Mehlwurm-Getreideriegel

Entwickelt und zubereitet wurden die Häppchen von Adrian Kessler, bei Essento Head Food Product Development. Seinen Werdegang in der gehobenen Gastronomie und seine Leidenschaft für die Insekten-Küche merkt man bei jedem Bissen: Die Gerichte sind durchdacht und geschmacklich und von der Konsistenz her schön ausbalanciert. In einigen sind die Insekten gewissermassen unkenntlich gemacht, so etwa beim Mehlwurm-Erbsenaufstrich oder bei der Mehlwurm-Polenta-Roulade, bei denen Mehlwurmmehl verarbeitet wurde. Teriyaki-Heuschrecken oder Mehrwurm-Krokant sind optisch, na ja, gewöhnungsbedürftig, aber geschmacklich absolut überzeugend. Besonders angetan haben es mir der Grillen-Couscous-Salat und die Mehlwurm-Polenta-Roulade. Sie sind für mich in erster Linie eines: hervorragende Food-Kreationen, Insekten hin oder her. Hätte ich im Blindtest überhaupt gemerkt, dass ich Insekten esse? Wahrscheinlich nicht.

Was nehme ich also von dieser Veranstaltung mit?

Erstens: Das Thema Insekten essen zeigt einmal mehr, wie sehr essen Kopf- und Gewohnheitssache ist. So hat meine Grossmutter vor 50 Jahren keine Oliven gegessen, und meine Eltern essen noch heute kein Sushi. Der ebenfalls anwesende Dominik Flammer bemerkte, viele Chinesen fänden es absolut widerlich, dass wir die weisse Drüsenflüssigkeit von Kühen (sprich: Milch) tränken. Etwas als unappetitlich anzusehen, ist subjektiv und kulturell geprägt. Es wird daher wahrscheinlich noch einiges an Effort und Zeit brauchen, um Berührungsängste und mentale Barrieren zu überwinden und Insekten einem breiteren Publikum schmackhaft zu machen.

Zweitens: Stehen wir vor einer Protein-Revolution? Wird das “Fleisch der Zukunft” das Fleisch der Gegenwart verdrängen? Entrecôte vom Grill, Ragout oder Salsiz laufen vermutlich nicht unmittelbar Gefahr, von Insektengerichten verdrängt zu werden. Aber diese haben durchaus das Potential, den Pro-Kopf-Fleischkonsum zu reduzieren, indem sie schlicht das Nahrungsangebot um eine weitere Eisweissquelle erweitern. Ausserdem wünschte ich mir, dass sie sich gerade im Convenience-Bereich durchsetzen werden. Wer Produkte wie etwa Chicken nuggets oder Fischstäbchen verzehrt, deren tierische Herkunft man ohnehin nur mit viel Phantasie erkennt und deren Geschmack von Panade und Sauce übertüncht wird, könnte seine Kalorien genauso gut auf ressourcenschonende Art tanken. Dazu müsste freilich der Preis hinreichend tief sein – gegenwärtig bewegt er sich etwa im Bereich eines guten Stücks Fleisch. Grundsätzlich könnte man natürlich einwenden, dass direkt zu Hülsenfrüchten greifen kann, wer eine ökologischere Proteinquelle erschliessen will.

Drittens: Selbst wenn sie unsere Ernährungsgewohnheiten nicht von Grund auf verändern sollten, können Insekten eine echte Bereicherung unseres Menüs sein, deren Geschmacksvielfalt wir in unseren Breitengraden erst gerade zu entdecken beginnen. Das Buch Grillen, Heuschrecken & Co. wird hoffentlich mithelfen, dafür den Weg zu bereiten. Das Crowdfunding läuft übrigens noch bis zum 4. Mai.

 

Weitere Informationen zum Thema:

 

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