Im Tal der Erinnerung – Wanderung im Valle Veddasca

Wie schon meine Mutter haben auch meine Schwester und ich viele glückliche Ferientage am Lago Maggiore verbracht. Meine Familie besass ein kleines Rustico in den Marroniwäldern oberhalb von Maccagno – nur einen Steinwurf von der Schweizer Grenze entfernt. Ohne Bad und mit Toilettenhäuschen mit geschnitzem Herzchen in der Tür reduzierte es das Leben auf das Wesentliche. Ich erinnere mich an den Duft von Sommerflieder, Abendessen unter der Pergola, begleitet von bettelnden, herrenlosen Katzen, schlaflose Nächte wegen der rumorenden Siebenschläfer im Dach. Aber auch an Parmaschinken, aromatische Tomaten, den Geschmack von auf dem Holzofen gerösteten Marroni, Pizze in Luino oder Gelati in Maccagno. Dieses Jahr haben meine Eltern ihren Anteil am Rustico verkauft, und ich, ganz sentimental, fand es Grund genug, an einem Wochenende in die Region zurückzukehren:

Der Zug hält kurz vor elf Uhr an dem kleinen, staubigen Bahnhof von Maccagno. Die Hitze ist bereits jetzt erdrückend. Bevor wir irgendetwas anderes tun, steuern wir die Pasticceria Cerinotti vis-à-vis vom Supermercato an. Due caffè e cannoncini. Die Crèmerölleli schmecken grossartig, genau wie früher. Und doch: Der Mitbewohner ist unglüücklich. Früh aufstehen, nur um im See zu baden. Das hätten wir auch einfacher haben können, als 3.5 Stunden Zug zu fahren. Aber der Lago Maggiore kann man nicht mit dem Zürisee vergleichen. Für mich hat sich die Reise alleine schon wegen der Fahrt von Gambarogno nach Maccagno gelohnt. Die Fahrt am glitzernd blauen See entlang, umrahmt von Marroniwäldern, Blumen, Palmen und pittoresken Kirchentürmen, weckt Kindheitserinnerungen. Jetzt in der Pasticceria zu sitzen, in der ich schon als kleiner Knopf vor 25 Jahren meinen ersten Gelato schleckte, macht es perfekt.2015-08-07Aber auch an Maccagno ist die Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Wir wollen Schinken kaufen, doch die Metzgerei gibt es schon seit Jahren nicht. Auch im Mercato sind die Regale mit industrialisiertem Essen länger geworden. Die grosse Käse- und Fleischabteilung musste Platz für Schüsseln mit fertigen Antipasti machen. Wir kaufen Tomaten, Mortadella, Formaggini, Oliven und Parmaschinken und schleppen uns in der Hitze an den See, um unter kühlenden Bäumen unser Picknick auszubreiten. Die Tomaten, ich kann es kaum glauben, schmecken so wässrig wie die aus der Schweiz. Dabei habe ich extra dieselbe Sorte gekauft, wie bei meinem italienischen Gemüsedealer in Zürich. Und die sind gigantisch! Was ist bloss passiert? Das war früher nicht so, oder?

2015-08-074Wir lümmeln am See. Ich gehe schwimmen. Um vier Uhr gönnen wir uns eine Glace bei Cerinotti, bevor wir unsere kleine Wanderung starten. Zwei Stunden Fussmarsch entfernt, auf einer Alp nahe Curiglia, befindet sich ein Bauernhof, auf dem ich schon lange einmal übernachten wollte. Wir holen uns im Touristeninformationsbüro (dass es sowas in Maccagno gibt?) eine Wanderkarte. Der Weg startet gleich dort. Ich gebe zu, es ist eine dumme Idee, bei über 30 Grad bergaufwärts zu wandern. Auch wenn der Pfad hauptsächlich durch den Wald führt, es ist gnadenlos heiss.

2015-08-071Klatschnass erreichen wir die Fattoria Roccolo. Ein Königreich für eine Dusche! Der Hof liegt auf einem Hügel. Kühe, Geissen, Gänse und andere Bauernhoftiere laufen frei herum. Die Zimmer liegen gegenüber vom Kuhstall und unweit vom Ziegenstall. Während es von draussen noch streng riecht, sind die Zimmer liebevoll eingerichtet und frei von tierischem Odeur. Vom Balkon aus sichtet man Curiglia und andere kleine, ursprüngliche Dörfer in den Hängen. Sei das Dorf auch noch so klein, die katholische Kirche ist immer vertreten.

Es beginnt zu stürmen, so dass wir das Nachtessen in der Stube und nicht auf der mit blauen Hortensien bewachsenen Terrasse einnehmen können. Alles vom Hof, versichert die Signora. Neben uns gesellen sich noch vier italienisch sprechende Bündner an den langen Esstisch, und dann geht’s los… Krüge mit vino rosso werden zusammen mit etlichen Platten mit Schinken, Salami, Speck, eingelegtem Gemüse, Geissechäsli, selbstgemachter Ricotta mit Baumnüssen, Frischkäse mit Brombeeren und natürlich Carpaccio di Bresaola, einer Spezialität aus der Region, serviert.

2015-08-073Die Bündner neben uns futtern, als gäbe es kein Morgen, und auch der Mitbewohner mampft mit vollen Backen. Das waren erst die Antipasti. Oje. Draussen fegt der Wind und es dunkelt langsam ein. Im Kamin über dem offenen Feuer wird die Polenta gekocht. Es gibt drei verschiedene Schmorgerichte dazu. Einen Brasato, eine geschmorte Schweinswurst mit vielen süssen Zwiebeln und eine Hackfleischsauce. Ob wir noch Hartkäse dazu wollen? Wir schauen sie verdutzt an. Äh nein. Unsere Tischnachbarn erwidern: certo! Die Polenta wird im Baumwolltuch serviert. Die Schmorgerichte sind der Hammer, aber von der Polenta können wir unmöglich alles aufessen. Es tröstet mich, dass, anders als in den gewöhnlichen Restaurants, alle Reste den Weg in den Schweinetrog finden.
Ich bin platt. Doch es gibt noch etliche Sorten hausgemachten Kuchen. Zu meiner Verwunderung stellt die Signora neben Wachholder- und Hagebuttenlikör auch eine Flasche mit Felsenbirnenlikör auf den Tisch. Zum Abschluss bekommen wir noch einen Mocca, die Bündner nochmals einen Krug Wein. Eine kleine, graue Katze zwängt sich zur Tür hinein und mauzt nach Futter. Die Hunde warten brav draussen. Der Mitbewohner ist wieder glücklich.

Am nächsten Morgen hat sich das Wetter beruhigt. Ich gehe alle Tiere knuddeln, lande vom wütigen Gänserich verfolgt im Mist und muss nochmals duschen, bevor wir auf der Terrasse frühstücken können. Anschliessend wandern wir via Astano (circa 2 Stunden) zurück in die Schweiz.

2015-08-072

Transport öV:

Zürich - Maccagno, IT (ans Schweizer Zugnetz angebunden):          3.5h Zugfahrt
Astano, CH - Zürich:                                               4h Bus- bzw. Zugfahrt

Wanderung:

Maccagno - Fattoria Roccolo:                                       ca. 2h
Fattoria Roccolo - Astano, CH:                                     ca. 2h

Unbedingt eine Wanderkarte im Informationsbüro von Maccagno (nähe Post) holen. Es gibt längere, wunderschöne Wanderungen in pittoreske Dörfli. Gut beschildert!

Verpflegung/Übernachtung:

Pasticceria Cerinotti in Maccagno IT
Pasticceria/Café mit hausgemachter Glace und Törtchen
Fattoria Roccolo in Dumenza, IT
Übernachtung auf dem Bauernhof inkl. Essen und Trinken für 55 Euro pro Person

 

 

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